Zu Bildern Gerhart Bergmanns
Eine merkwürdige Anziehungskraft belebt Gerhart Bergmanns Bilder: sie bewirken einen Reiz, dessen Ursprung auf den ersten Blick nicht eindeutig ist, ja, dessen Hintergründigkeit vielleicht überhaupt nur im längeren Umgang mit diesen Farbradierungen sich dem Betrachter erschließt. Denn, daß sie hintergründig sind, ist gar keine Frage. Sie kommen so unschuldig daher und geben sich als Stilleben, aber sie entsprechen wenig dieser spitzweghaften Bezeichnung, sondern eher dem französischen Begriff für diese Kunstkategorie: „Nature morte“. Von toter, vielmehr sterbender, zum Sterben verurteilter Natur reden Bergmanns Blätter „durch die Blume“.
Aber die „rein“ botanische Erscheinungsweise – jedenfalls der Blumen- und Pflanzenstücke – einer undramatischen Umwelt täuscht gewaltig: Hier handelt es sich weder um einen Naturkundeunterricht mit künstlerischen Mitteln, noch um einen gemütlichen Wandschmuck für die „gute Stube“, für das Wohnzimmer des nach heiler Welt lüsternen Durchschnittsbürgers. lm Gegenteil: Je länger und intensiver man sich auf die Radierungen einläßt, desto unheimlicher werden sie. Unübersehbar ist der Zustand, in welchem sich alles Organische befindet, ein letaler, meist jedenfalls. Wir begegnen keineswegs der auf-blühenden, prunkenden Natur voller Saft und Kraft, sondern überraschen sie im Moment ihrer Schwäche, da der Höhepunkt des Wachstums überschritten ist oder, wie wir uns vorstellen, hinter unserem Rücken, wenn wir uns wegwenden, überschritten wird. Sobald sich das Auge eine zeitlang den Anblick versagt, werden die Blätter abfallen, die Stengel vertrocknen, die Früchte verschrumpeln. Ein bildlich ausgesparter Herbst regt sich hinter der Oberfläche und webt im Hintergrund sein „Totenkleid“, wie die Poesie der Romantik dergleichen zu benennen pflegte. Keine Andeutung von Sonne, von strahlendem Licht, kein aufmunternder Schimmer hinter den akribisch fixierten Objekten aus Garten und Flur: Keine Farbe ist sommerlich, alle gebrochen, alle in einem Ton, der nichts Gutes verheißt. Und es ist damit wahrhaftig nicht allein die Herbststimmung der Natur evoziert, auch die zivilisatorische kündigt sich vorzeichenhaft an: Durch Zerfall. Während das Grün befruchtend in den Kreislauf zurücksinkt, erweisen sich die von Menschenhand erzeugten Dinge als Menetekel. Das alte Fahrrad beispielsweise sieht aus wie ein urtüm-liches Relikt für die Archäologen von einem anderen Planeten. Der lädierte Fensterrahmen, die halb aufgerauchte Schachtel Zigaretten, Fingerhut und Nadel, die alte deutsche Spielkarte: Vor ihren drohend gefärbten Hintergründen und neben den abscheidenden Organismen wie Zeichen der Kapitulation ausgelöschter Vitalität. Für derartige Ahnungen sorgt, wie gesagt, „daß Hintergrund und Hintergründigkeit mittels der gebrochenen Farbtöne zusammengeschlossen werden. Aus welch beängstigendem Blau neigen sich die Holunderbeeren über die Reste des zerstückelten Drahtzaunes, und wieso will mir die kugelartig gerundete Glut vor dem Fenster mit der Vase und den Lilien nicht wie ein normaler Sonnenuntergang vorkommen?
Was Bergmann dem Betrachter bietet, macht den Eindruck letzter Blicke: Als erspähe er vorbei an der gewohnten Vegetation etwas anderes, das sich der genauen Ansicht noch entzieht und die antizipatorische Fantasie nur mit düsteren, aber nicht darstellbaren Befürchtungen erfüllt, um als diffuse Farbigkeit hervorzutreten. lnsofern ent-halten Bergmanns Blätter keine „Freundlichen Grüße aus Nachbars Garten“, stattdessen je-doch den sanften und traurigen Hinweis auf eine Vergänglichkeit, die keineswegs nur für Blumen gilt, und an deren globales Sichereignen man nicht umhin denken kann. Und als ein weiterer Gedanke, den wir Gerhart Bergmanns Bildern verdanken: Daß wir, uns der zahllosen Stilleben der europäischen Malerei erinnernd, ihrer fröhlichen Farbigkeit, fast Buntheit, an diesen hier so eigentümlichen zu ermessen vermögen, wohin der Wind der Geschichte uns geweht hat.
Günter Kunert